Freitag, 23. Oktober 2009

Pressebericht #11: An Schleusingen denken - und leben

Mit genauem Blick und einer Menge Sensibilität hilft der junge Theater-Regisseur Marc Lippuner einer Kleinstadt in Südthüringen, sich selbst neu kennenzulernen.


(Frank Hommel, Freies Wort, 23. Oktober 2009)


Man kennt das aus der Gemälde-Galerie: Wer zu nah dran steht, überblickt die Zusammenhänge nicht mehr. Dann hilft es, ein paar Schritte zurückzutreten. So ähnlich ist es mit dem Leben. Hat sich der Mensch daran gewöhnt, nimmt er die - im Wortsinn - merkwürdigsten Dinge nicht wahr. Manches geht so verloren, im Kopf wie im Herzen.

In Schleusingen haben sie einen gefunden, der die Menschen bei der Hand nimmt, sie einlädt, mit ihm gemeinsam diesen Schritt zurück zu tun. Der ihnen eine neue Perspektive zeigt im Blick auf ihre Stadt, ihre Heimat, ihr Leben. Es ist Marc Lippuner, 31-jähriger Theaterregisseur aus Berlin. Lippuner hat in Berlin und Wien Literatur und Geschichte studiert, am Münchner Volkstheater bei Christian Stückl, dem Regisseur der Oberammergauer Passionsspiele, assistiert, drei Jahre in Aachen als Regieassistent gearbeitet. Doch dann kündigte er, wollte lieber frei sein. Ein Stipendium des Künstlerhofs "Roter Ochse" lockte ihn nach Schleusingen.

"Ich suche nach den Narben, die der Mauerfall in der Biografie einer Stadt hinterlassen hat, Narben, die unsichtbar geworden sind oder aber noch immer mühevoll kaschiert werden." Worte aus Lippuners Geschichte "Ein letzter Besuch". Worte, die ein Credo dessen sind, was er in nur sechs Monaten in Schleusingen geschafft hat. Für die Geschichte gab's beim Wettbewerb des Provinzschrei-Festivals den dritten Platz. Sie erzählt vom Geflügelschlachthof hinterm Bahnhof. Seit der Wende rottete das Areal vor sich hin. Inzwischen haben Abrissbagger ganze Arbeit geleistet. Zuvor konnte Lippuner mit dem Blick des neugierig Fremden an Erinnerung retten, was zu retten war. In Worten, die er niedergeschrieben, Dingen, die er aufgesammelt hat.

Mehr noch als mit dem Schlachthof verbinden viele Schleusinger mit dem Kinderheim "Hilde Coppi" das Weißt-du-noch-Gefühl. Auch an diesem Gebäude hatte die Zeit genug Zeit zu nagen. Ein Brand tat das Übrige: Das Hilde-Coppi-Heim wird des Schlachthofs Schicksal teilen. Die Erinnerung an das Heim wabert durch die Stadt wie die Sporen durch eine Pilzkultur. Lippuner hat auch sie bewahrt. Dafür sind sie ihm dankbar. Obwohl, oder vielleicht gerade weil sie oft so achtlos am Heim vorbei sahen wie am Schlachthof. Sie hatten sich an das traurige Bild gewöhnt. "Wer von uns", fragt Carmen Hoffmann vom Frauenchor "Slusia" rhetorisch, "wer von uns wäre auf die Idee gekommen, durch diese Ruinen zu klettern?"

Und nicht allein sichtbare Zeugen der Geschichte haben es Lippuner angetan. Dabei war es anfangs nicht seine Absicht, sich als Archäologe jüngster Vergangenheit zu versuchen. Es hat sich so ergeben, sagt er. Erst wollte er mehr Theater machen. In einer Stadt wie Schleusingen ein schwieriges Unterfangen. Wer sich in Berlin als Regisseur durchschlägt und gelernt hat, dass die Förderbürokratie sich nicht mit Inszenierungen überlisten lässt, sondern lieber Papiere abstempelt, auf denen das Wort Projekt draufsteht, weiß sich auch in der Provinz zu helfen.

So kam es zu den "Grenzüberschreibungen". Das Projekt wird heute vorgestellt. 30 Briefe, einst hinweg gesandt über den Eisernen Vorhang von oder nach Schleusingen, hat er zusammengesucht. "Manches ganz banal." Das Pizza-Rezept überwandt die Grenze ebenso wie der Wunsch nach Haarspray. Etwas Herablassung sei manchmal herauszulesen, und wenn die Briefe eins zeigen, sagt er, dann: Wie die Grenze im Lauf der Jahre hüben wie drüben zur Normalität wird.

Herausgekitzelt hat er auch etwas aus den Menschen. Denn ein Theaterstück ist ihm doch gelungen, auch wenn man es kaum klassisch nennen kann. Tschechows "Drei Schwestern" hat er ins Schleusingerische übersetzt. Bei ihm sind es sechs Frauen aus der Gegend, die über ihr Leben resümieren. Sechs echte, wohlgemerkt. Mit seiner einfühlsamen Art hat Lippuner es geschafft, dass sie auf der Bühne ihre Seele öffnen. Das Publikum hält den Atem an. Wer sich eine kleine Stadt ausmalt, in der jeder jeden kennt, kann sich vorstellen, wie schwer den Darstellerinnen das gefallen sein mag. "Ich hätte nie gedacht, dass man so schnell so etwas von sich preisgibt", sagt Johanna Hofmann. Mit 71 ist sie die älteste im Sextett. In ihrer Jugendzeit hatte sie Theater gespielt, dank Lippuner fand sie dahin zurück: "Er hat mir viel gegeben, auch in meinem Alter. Es ist, als ob man nachher wieder anders ins Leben reinguckt." Carmen Hoffmann vom Frauenchor berichtet vom Theaterabend: "Niemand, der hinterher nicht selbst darüber nachgedacht hat, was bedeutet Heimat für mich."

Die sechs Monate des Stipendiats sind fast um. Doch vom Geist in der Kleinstadt, den er geprägt hat, wird etwas bleiben. Johanna Hofmann: "Man sieht und empfindet die Umwelt anders." So oder so ähnlich fühlen viele in Schleusingen, denen die Begegnung mit dem 31-Jährigen mehr mitgab als nur den Augenblick. Manchmal hilft die Kunst tatsächlich, die Welt ein bisschen besser, das Leben ein bisschen reicher zu machen. Auch dann noch, wenn der Vorhang gefallen ist, das Buch zugeklappt, das Gemälde verstaubt.


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